Hadessohn

Hadessohn

E. S. Schmidt


Leseprobe

1

Zuerst knarrte Bens Zimmertür, dann die vom Bad. Jenn sah zur Zeitanzeige auf dem Küchenradio hinüber. Fast zehn. Er hätte längst in der Schule sein müssen.

Es dauerte nicht lange, und die Klospülung ging. Schlurfende Schritte, dann knarrte die lose Diele vor der Küche. Ben stand in der Küchentür. Sein braunes Haar zeigte in alle Richtungen, ein paar Boxershorts waren seine einzige Kleidung. Auf der nackten Brust glänzte die alte Münze, die er seit ein paar Woche ständig an einem Lederband um den Hals trug.

Seine Koteletten schienen schon wieder länger geworden zu sein. Das, was einmal sein Bart sein würde, zog sich als dunkler Schatten über beide Wangen fast bis zum Kinn. Ihr kleiner Bruder wurde zum Mann. Brust und Arme zeigten, dass er die Karte des Fitnessstudios seit einigen Wochen ausgiebig nutzte. Das war neu, genauso wie die Health-Drinks, die das Junk-Food ersetzt hatten. Eigentlich sollte das ein gutes Zeichen sein, doch es war der einzige Bereich seines Lebens, in dem er so etwas wie Disziplin an den Tag legte.

Sie sah in ihren Kaffee und sagte möglichst beiläufig: „Hast du heute später an?“

Er antwortete nicht, blieb nur in der Küchentür stehen, und sie wusste, dass er sie ansah. Sie rührte in ihrem Kaffee herum. Schließlich setzte er sich in Bewegung, nahm im Vorbeigehen eine Tasse von der Spüle und goss sich Kaffee ein.

„Und du?“, fragte er zurück.

 „Ich hab heute die Spätschicht.“ Jetzt sah sie doch auf und begegnete seinem kalten Blick. Auch dieser Blick war neu.

Ben war immer so liebesbedürftig gewesen. Kuschelmonster hatte sie ihn genannt. In einer so kleinen Familie war man sich sehr nah – Mom, Ben und sie. Sie gaben einander Wärme, waren einander Zuflucht. Sie drei gegen den Rest der Welt.

Letzte Woche hatte er Mom Schlampe genannt. Sie war so perplex gewesen, dass sie ihn nicht zurechtgewiesen hatte. Es entsprach so gar nicht Ben. Sie waren aufeinander angewiesen, schuldeten einander Liebe und Respekt. Pubertät war keine Entschuldigung. Aber welcher Fünfzehnjährige hielt sich schon daran?

Sie umklammerte die Kaffeetasse, spürte deren Hitze wie einen Kraftschub. „Du bist gestern ziemlich spät nach Hause gekommen.“

Er sagte nichts darauf, lehnte nur lässig am Küchentresen und musterte sie abschätzig.

„Ich hab Mom gesagt, dass du bei Carsten übernachtest. Ich lüg sie nicht gerne an, nicht mal für dich.“

Er stieß sich ab und schickte sich an, die Küche zu verlassen. Sie streckte die Hand nach ihm aus. „Ben, warte.“

Er packte ihre Hand, so fest, dass es weh tat. Sie wollte sich seinem Griff entziehen, aber er drückte weiter zu, als wollte er ihr die Finger zerquetschen. Ein dumpfer Schmerz.

„Au! Ben, du tust mir weh!“

 Er trat näher, ohne ihre Hand loszulassen. Dann beugte er sich zu ihr herunter, bis sie seinen Atem auf der Wange spürte. Sie wagte es nicht, ihn anzusehen, fixierte die Kaffeemaschine, während der Schmerz ihren Unterarm lähmte.

„Das ist nur eine Warnung“, sagte er. „Lasst mich in Ruhe, du und deine Mutter. Dann wird euch nichts geschehen. Hast du das verstanden?“

Der betäubende Schmerz erreichte den Ellbogen. Jenn nickte. Er verstärkte den Druck noch einmal, bis sie gequält aufstöhnte, dann ließ er endlich los und ging.

 Sie rieb sich die Finger. Was war nur in ihn gefahren? Und seit wann sagte er so etwas wie ‚deine Mutter‘?

Während der Kaffee kalt wurde, hörte sie ihn duschen und in seinem Zimmer rumoren. Schließlich kam er noch einmal zurück und stellte die Tasse in die Spüle. Er war, wie seit ein paar Wochen immer, ganz in Schwarz gekleidet: schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt. Die Lederjacke war neu. Sie sah echt aus. Wie hatte er sich die leisten können?

Doch sie wagte nicht, ihn danach zu fragen. Erst als die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel, atmete sie auf.

Sie hatte Ben noch nie gefürchtet. Ben, ihr kleiner Bruder, dem sie als Vierjährige schon das Fläschchen gegeben hatte. Den sie als Siebenjährige an der Hand mit zum Kiosk genommen hatte, um ihm das erste Eis seines Lebens zu kaufen. Der mit seinem aufgeschürften Knie weinend zu ihr gelaufen war – zu ihr, nicht zu Mom. Er musste sich doch daran erinnern!

 Irgendwie bezweifelte sie, dass er auf dem Weg zur Schule war. Es war inzwischen ein Muster: Er ging am späten Vormittag und kehrte erst nach Mitternacht zurück. Zum Glück hatte Mom das durch ihren Schichtdienst im Krankenhaus bisher nicht mitbekommen – auch durch Jenns Lügen, mit denen sie Bens Eskapaden verschleierte. Er selbst tat wenig, um sein Fehlverhalten zu verbergen. Trotzdem hatte sie keine Ahnung, wo er sich herumtrieb – und mit wem. Seine alten Freunde zumindest waren es nicht. Carsten und Phillip hatten sich schon gemeldet und nach ihm gefragt.

Sie ließ den Kaffee stehen und ging hinüber zu seinem Zimmer. Er hatte ihr und Mom schon vor zwei Jahren strengstens untersagt, seine heiligen Hallen ohne Erlaubnis zu betreten. Die Allüren eines Teenagers, über die sie und Mom gelächelt hatten. Zwingen konnte er sie nicht dazu – in dieser Wohnung direkt unter dem Dach eines verwohnten Altbaus hatte es für die Zimmertüren von Anfang an keine Schlüssel gegeben. Der einzige Widerstand, den Jenn überwinden musste, war ein Innerer. Sie wollte Ben nicht hintergehen. Doch dann sagte sie sich, dass es nur zu seinem besten war, und legte die Hand gegen das mit rissiger Ölfarbe bedeckte Holz.

 Die Tür schwang knarrend auf. Dahinter lag – penible Ordnung. Keine Spur von dem Chaos, das Jenn erwartet hatte. Das Bett war gemacht. Offenbar hatte er sogar gelüftet, nur ein Hauch von Duschgel hing in der Luft. Nichts lag herum, keine Klamottenhaufen, keine Papierstapel oder Schulsachen. Selbst die Regale waren nahezu leer. Offenbar hatte er alle seine Sporttrophäen und Andenken weggeräumt, die Poster von den Wänden genommen, sogar die Collage mit den Fotos von ihm und seinen Freunden.

Als sie den Schrank öffnete, schrak sie zurück vor den sauberen Stapeln schwarzer Shirts und Hosen. Er musste alle anderen Sachen weggeworfen haben. Ganz unten stand eine schwarze Kiste, doppelt so groß wie ein Schuhkarton. Waren hier wenigstens noch ein paar Erinnerungen an vergangene Zeiten? Was von allem würde er aufbewahren wollen, wenn er sogar Fotos von Freunden und die Zeichen alter Triumphe weggeräumt hatte?

 Sie kniete sich hin und zog den erstaunlich schweren Karton nach vorne. Doch dann zögerte sie.

 Sein Zimmer, das war eine Sache, aber der Schrank, und nun der Karton. Was immer hier drin war, er hatte es verbergen wollen, und wenn er sie hier fand … sie rieb sich über die Finger, in denen noch immer ein Echo des Schmerzes nachhallte. Ihr Herz klopfte wild und sie lauschte, doch es war unwahrscheinlich, dass er nochmal zurückkam.

Zögernd legte sie die Finger an den Deckel. Sie hoffte so sehr darauf, hier eine Spur des alten Bens zu finden, einen Klecks farbiger Hoffnung, an den sie anknüpfen konnte, der ihr einen Weg zeigen konnte zurück zu seinem alten Ich. Verdammt, nun war sie schon so weit gegangen, da war der nächste Schritt nur ein kleiner.

Mit einem Ruck hob sie den Deckel ab – und starrte auf zwei Pistolen. Die Art, wie sie lagen, ließ deutlich Platz für eine Dritte.

Das konnte nicht sein. Das mussten Spielzeuge sein. Wasserpistolen, Knaller für Platzpatronen. Doch als sie die eine aus der Kiste hob, sagte ihr schon das Gewicht, dass dies kein Spielzeug war.

Von einem Ekel ergriffen ließ sie die Waffe zurück in die Kiste fallen, schob sie zurück und schloss den Schrank. Ben war offenbar dabei, völlig abzudrehen. In was hatte er sich da hineingeritten?

Ihr erster Impuls war, hinter ihm her zu laufen und ihn zur Rede zu stellen. Aber wo konnte sie ihn suchen? In der Schule war er sicher nicht.

Sie brauchte einen Hinweis. Irgendwo in diesem leergefegten Zimmer ohne jede persönliche Note musste es doch einen Hinweis geben.

Sie durchsuchte die Hostentaschen der Jeanshosen, die Taschen der einzigen Jacke, die sie fand, den Papierkorb, den Nachttisch. In der Spalte zwischen Nachttisch und Bett wurde sie fündig: ein Kassenbon. Ben ging nicht oft aus, dazu fehlte ihnen das Geld, aber das Florenz schien eine Kneipe zu sein. Als Jenn die Adresse erkannte, schlich eine Gänsehaut über ihren Rücken. Trieb Ben sich tatsächlich im Rotlichtviertel herum?

 Ein Schlüsselbund schepperte vor der Eingangstür und Jenn schreckte hoch. Schnell verließ sie Bens Zimmer, schloss die Tür und huschte ins gegenüberliegende Bad.

Das war Moms Schlüsselbund, nicht Bens. Beide Klänge waren ihr so vertraut, dass sie sie leicht auseinanderhalten konnte. Trotzdem wollte sie nicht in seinem Zimmer erwischt werden.

„Jenn?“, rief ihre Mutter im Flur.

„Komme gleich!“ Sie setzte sich auf den Klodeckel und betrachtete den Bon genauer. Er war fast drei Wochen alt und wies „Spirituosen“ aus. Ben trank ab und zu mal Bier, aber das fiel eigentlich nicht unter „Spirituosen“. Das musste schon etwas Stärkeres gewesen sein.

Einen Schnaps im Puff trinken, vermutlich ging das unter Jungs als Mutprobe durch. Sie würde Carsten anrufen und danach fragen – aber im Moment war der noch in der Schule.

Vielleicht sollte sie im Florenz einfach mal vorbeischauen? Vielleicht war das ja der Ort, zu dem es ihn hintrieb, während seine Freunde in der Schule waren. Ganz abwegig war das nicht. Echte Pistolen bekam man im Bahnhofsviertel vermutlich eher, als an jedem anderen Ort der Stadt.

Pistolen! Wieder traf sie die Ungeheuerlichkeit dieser Entdeckung. Für Pistolen brauchte man irgendeine Art von Erlaubnis, einen Waffenschein oder so. Fünfzehnjährige bekamen so etwas bestimmt nicht – und wo konnte ein Fünfzehnjähriger illegal Waffen kaufen? Und überhaupt – mit welchem Geld?

Sie hörte Mom nebenan in der Küche rumoren. Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie ihr die Pistolen zeigen sollte. Es wäre so erleichternd, wenn sie dieses Wissen nicht alleine tragen müsste.

Aber das war unmöglich.

 Nach Dads Tod war Mom in dieses Loch gefallen, und es hatte lange gedauert, bis sie daraus wieder aufgetaucht war. Bis heute war sie nicht mehr ganz die Alte, auch wenn sie sich fröhlich und unbekümmert gab. Jenn durfte nicht zulassen, dass ihre Familie, dass ihre Mom noch einmal eine solche Dunkelheit durchmachen musste. Sie musste Ben zurückholen, bevor Mom überhaupt merkte, dass etwas nicht in Ordnung war.

Bisher hatte Jenn das ganz gut vor ihr verbergen können – das Schwänzen, das späte Heimkommen. Sie hatte Ben bei seinen Ausreden unterstützt – oder eigene erfunden. Moms wechselnder Dienstplan als Krankenschwester erleichterte das. Sie würde herausfinden, was mit Ben los war, und ihm ins Gewissen reden.

Entschlossen schob sie den Bon zum Handy in ihre hintere Hosentasche. Sie hatte kein großes Bedürfnis danach, in das Frankfurter Nachtleben einzutauchen, aber jetzt war Vormittag, und das Bahnhofsviertel vermutlich ein harmloser Ort.

Sie zog die Spülung und verließ das Bad.

Mom saß in der Küche. Sie sah müde aus, wie immer nach dem Nachtdienst. Jenn stand einen Moment in der Küchentür und betrachtete ihre Mutter, die den Kopf in die Hände gestützt hatte und einfach nur da saß, als benötige sie im Moment nichts weiter, als ein bisschen Ruhe. Dann nahm sie ihre Tasse vom Tisch und ging zur Spüle. Betont fröhlich fragt sie: „Wie war’s heute Nacht?“

Mom hob den Kopf und ließ die Hände sinken. „Ganz OK. Zwei Autounfälle und ein paar Leute, die der Notdienst reingebracht hat. Seitdem es nicht mehr ganz so heiß ist, geht es den Leuten wieder besser.“

Jenn spülte die beiden Tassen aus, ihre und Bens. „Magst du den Rest Kaffee?“

„Danke, ich leg mich lieber ein paar Stunden hin.“ Mom gähnte. „Aber lass ihn ruhig stehen. Ich fahre nachher noch zu Achmed rüber – er hat wieder ein paar Sachen über dem Ablaufdatum übrig.“

Bei Achmeds kleinem Laden lohnte sich das Spenden an die Tafeln nicht, und so profitierte die Nachbarschaft.

Normalerweise hätte Jenn angeboten, die Lebensmittel abzuholen, aber sie brannte darauf, zu sehen, was es mit dem Florenz auf sich hatte.

„Ich fahr in die Stadt und schaue nach Turnschuhen.“ Sie stellte die Tasse auf die Abtropffläche und wandte sich um. „Wahrscheinlich fahre ich von dort dann direkt zur Arbeit.“

Sie ging in den Flur und Mom stand erst auf, als sie vorbei war, sonst hätten sie sich gegenseitig im Weg gestanden.

In dieser Wohnung war alles eng. Immerhin drei Zimmer, sagte Mom gern. Dass diese sich auf nicht mal sechzig Quadratmeter verteilten, erwähnte sie dabei nie. Links Küche und Bad – Tageslichtbad, wie Mom mit Blick auf das Bullaugen-Dachfenster betonte - rechts die beiden Zimmer der Kinder und an der Stirnseite der größte Raum: Moms Schlafzimmer. Damit Ben und Jenn jeweils ein eigenes Zimmer haben konnten, verzichteten sie auf ein Wohnzimmer. Stattdessen saßen sie in der Küche zusammen oder kuschelten sich zum Fernsehen auf Moms breitem Bett aneinander.

Wann hatten sie das eigentlich zum letzten Mal getan?

„Mein Sonnenscheinchen“, sagte Mom mit einem warmen Lächeln. Sie lehnte am Rahmen der Küchentür. „Schau nicht auf den Preis, hörst du? Du verdienst dein eigenes Geld, also wenn dir welche gefallen, dann kauf sie dir.“

„Wenn sie dreihundert Euro kosten, gefallen sie mir nicht. Außerdem wissen wir noch nicht, was Bens Abschlussfahrt kosten wird.“

„Ach, bis dahin ist es noch fast ein Jahr.“

Mom beobachtete Jenn dabei, wie die ihre alten Treter anzog, die sie nicht einmal mehr aufschnüren musste, so ausgeleiert waren sie. Wenn es regnete, drückte das Wasser durch die gebrochenen Sohlen – aber inzwischen regnete es im Sommer ja kaum noch. Bis zum Herbst hielten die noch durch.

„Hast du nochmal drüber nachgedacht?“, fragte Mom.

„Worüber?“ Jenn richtete sich auf.

„Das Abitur nachzumachen, wenn Benn aus der Schule ist. Oder wenigstens eine Ausbildung anzufangen.“

Jenn nahm ihre Jeansjacke vom Haken. „Du hast doch eben selbst gesagt: Das ist noch ein Jahr hin.“

„Eben. Du müsstest dich langsam bewerben.“

Jenn hatte immer gute Noten gehabt, und Ihre Lehrer hatten ihr das Abi nahegelegt, aber sie hatte sich nach der mittleren Reife möglichst schnell einen Job gesucht, um zum Haushaltseinkommen beizutragen. Das hatte geholfen, die Schulden abzutragen, aber große Sprünge konnten sie immer noch nicht machen.

Mom trat plötzlich auf sie zu, und für einen Moment dachte Jenn, sie wollte sie in den Arm nehmen. Doch Mom strich ihr nur eine widerspenstige Strähne hinter das Ohr und streichelte ihr dann über die Schulter.

„Du weißt, dass du die Last dieser Familie nicht alleine tragen musst, nicht wahr? Manchmal kann die Familie auch für dich da sein.“

In diesem Moment hätte Jenn beinahe etwas gesagt. Über Ben. Über das, was heute Morgen passiert war. Über seinen schmerzhaften Griff und das, was sie gefunden hatte. Etwas in ihr schrie danach, sich ihrer Mutter anzuvertrauen.

 Doch das konnte sie Mom nicht zumuten. Sie zwang sich zu einem Lächeln und sagte nur: „Ich weiß, Mom.“ Sie gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verließ die Wohnung.

  

2

Aus seinem geparkten Wagen heraus beobachtete Aristos, wie der Mann das Bierfass von der Laderampe des Lasters hievte. Mit einem lauten „Klonk“ landete es auf dem Bürgersteig und der Mann rollte es ins Florenz.

 Der Mann war vermutlich Baptiste. Baptiste war der letzte gewesen, für den sie einen neuen Wirt gesucht hatten, und der hier sah aus wie ein Junkie, der den Entzug noch nicht lange hinter sich hatte.

Baptiste hatte seine Fehler aber Drogen gehörten nicht dazu. So gesehen konnte der ursprüngliche Bewohner dieses Körpers froh sein, an Baptiste geraten zu sein. Klar, er war nicht mehr Herr im eigenen Haus, aber das war er vorher auch nicht gewesen. Jetzt wurde er eben von Baptiste beherrscht, statt vom Dope.

Manchmal fragte sich Aristos, ob nicht vielleicht der eine oder andere Wirt diese Entwicklung tatsächlich begrüßte. Sich zurücklehnen und dabei zusehen, wie jemand anderes das Leben auf die Reihe bekam, das er selbst in die Gosse gefahren hatte. Gut, Baptiste und Konsorten taten das mit illegalen Mitteln, aber Aristos hatte auch schon Tote abgeräumt, die ein sehr friedliches, legales Leben geführt hatten. Nicht viele. Es hatte zwei oder drei gegeben in seiner Karriere.

Aber gut, solche Entscheidungen wurden oberhalb seiner Gehaltsklasse getroffen. Nicht, dass er jemals ein Gehalt bekommen hätte, aber seine Aufgabe war klar, und nachdem er beim letzten Mal so grandios versagt hatte, wollte er sich diesmal keinen weiteren Patzer erlauben.

Leider konnte Aristos sich kein neues Gesicht zulegen, wie die Toten, aber er zählte darauf, dass die meisten Leute nicht in parkende Wagen schauten. Das Auto immerhin war neu - naja, neu in dem Sinne, dass die Toten es noch nicht kannten. Tatsächlich war es eine heruntergekommene Rostscherbel. Außerdem konnte er dank seiner guten Augen in einigem Abstand parken, und dann war da immer noch der Feldstecher im Handschuhfach.

 Baptiste kam gerade wieder aus der Tür, um das zweite Fass abzuladen. Doch er kam nicht dazu, weil eine junge Frau ihn ansprach. Sie war schlank, um die zwanzig. Eigentlich sah sie ganz bürgerlich aus in Jeans und Jacke und mit einem langen, kastanienbraunen Pferdeschwanz. Schade um sie, aber ein Mädel, das morgens um elf in einem Bordell vorsprach, konnte eigentlich nur einen Grund dafür haben.

Es war unmöglich zu hören, was die beiden miteinander redeten, aber schließlich folgte das Mädchen Baptiste nach drinnen. Ganz schwach regte sich der dunkle Sinn in Aristos, aber so dumm würde Baptiste nicht sein. Der Sinn reagierte bloß auf die Vorstellungen, die Baptiste in diesem Moment durch den Kopf gingen, Bilder von Sex und Gewalt, aber er würde hier sicherlich nichts durchziehen. Nicht in dem sauberen Etablissement seines Bosses. Für die Geldwäsche und das Image brauchten sie auch ein paar legale Mädchen, die angemeldet waren und freiwillig anschafften. Baptistes besondere Vorlieben mussten andere Frauen erfüllen. Illegale, in privaten Wohnungen, wo die eigentlichen Profite gemacht wurden.

Baptiste und das Mädel waren kaum nach drinnen verschwunden, als Rico und die anderen kamen. Zwei, vier, sechs – mit Baptiste sieben. Rico und die sieben Zwerge. Vor zwei Jahren, in Marseille, waren es noch neun gewesen, immerhin zwei hatte Aristos das letzte Mal abliefern können, bevor sie sich ein neues Land und neue Gesichter zugelegt hatten. Fast sechs Monate hatte er gebraucht, um sie wieder aufzuspüren.

Rico war leicht zu erkennen – an der Art, wie die anderen um ihn herumscharwenzelten. Wieder hatte er sich einen hübschen Jungen ausgesucht, vielleicht Fünfzehn. Die jungen und die süchtigen waren am leichtesten zu übernehmen, und mit Junkies hatte Rico sich noch nie abgegeben. Nicht für sich selbst, zumindest.

Die Toten verschwanden im Haus und Aristos lehnte sich zurück.

Es wurde Zeit, dass er einen Plan entwickelte. Die Idee, wie ein Wolf zuerst die schwächeren aus der Herde auszusondern und anzugehen, hatte ja nur so mittelprächtig funktioniert. Rico hatte sein Geschäft verkauft und war mit seiner Truppe untergetaucht. Bei ihm hieß das: die alten Wirte töten und neue übernehmen. Vorzugsweise unauffällige. Sie waren ziemlich routiniert darin, und nach dem dritten Komplettwechsel hatte Aris ihre Spuren endgültig verloren. Als sie sich sicher gefühlt hatten, hatten sie diesen Bordellbetrieb übernommen – einfach, indem sie seinen Besitzer übernommen hatten. Keine Kosten, kein Papierkram. Aber sie hatten den Fehler gemacht, auf Juris alte Verbindungen in Osteuropa zurückzugreifen, so hatte Aristos sie wiedergefunden.

Rico waren seine Leute nicht egal. Er kämpfte um jeden einzelnen von ihnen. Darum hingen sie an ihm. Das war seine große Stärke. Es war also schwierig, einen nach dem anderen anzugehen, sie schützten sich gegenseitig und Rico schützte sie alle.

Wenn er umgekehrt Rico zuerst ausschaltete, wäre der Rest eine leichtere Beute. Aber an Rico ranzukommen war noch schwieriger. Nicht mit all den Getreuen um ihn herum, die für ihn durch die Hölle gehen würden.

Aristos starrte auf die Tür des „Florenz“, die sich nicht mehr geöffnet hatte, seit alle darin verschwunden waren. Das zweite Bierfass stand noch immer einsam auf der Ladefläche.

Seltsam, der dunkle Sinn hatte sich immer noch nicht beruhigt, im Gegenteil. Baptiste war eindeutig lüstern. Eigentlich überließ Rico es niemals Baptiste, die Bewerbungsgespräche mit den legalen Mädchen zu führen. Das war eher Nells Sache. Was ging da drinnen vor sich?

Die Kleine hatte geradezu bieder ausgesehen, aber falls sie ohne Rückhalt war – ohne Familie und Freunde, vielleicht illegal in Deutschland -, wenn also niemand sie vermissen würde, war es für Rico lukrativer, sie in den Wohnungen arbeiten zu lassen. Die Gewinnspanne war höher, denn die Frauen bekamen von dem, was sie erwirtschafteten, keinen Cent. Sie für diese Sklavenarbeit zu brechen – „einzureiten“, wie Rico es nannte – dafür war Baptiste zuständig. Wirklich schade um die Kleine.

Obwohl … vielleicht ergab sich genau daraus eine Gelegenheit, Baptiste vom Spielbrett zu nehmen. Aristos würde Rico irgendwann direkt angehen, aber je weniger Männer sich ihm dabei in den Weg stellen konnten, umso besser.

 

3

Das Bahnhofsviertel. Jenn war noch nie hier gewesen – abgesehen davon, dass sie mit der Bahn untendurch gefahren war, um zum Bahnhof zu kommen. Aber alleine mittendrin fühlte sie sich seltsam ungeschützt.

 Sie stieg vom Rad und zog das Handy aus der Jacke, aber bevor sie es entsperrte, sah sie sich nochmal um.

Jetzt, am Vormittag, wirkte die Kaiserstraße eigentlich wie eine ganz normale Straße. Es gab sogar einen Bäcker und einen Elektronikladen, auch wenn der Gitter vor dem Fenster hatte, und die anderen Etablissements darum herum nicht zu übersehen waren. Die Leute auf der Straße waren eine typische Frankfurter Mischung diverser ethnischer Hintergründe, einige darunter sahen aber erschreckend mager, heruntergekommen und krank aus. Dann bemerkte Jenn jemanden, der zwischen zwei parkenden Wagen auf dem Boden hockte. Als ihr klar wurde, dass der Mann gerade in den Rinnstein kackte, wandte sie sich schnell ab. Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wohin Obdachlose dafür gehen konnten.

Die Karten-App auf ihrem Handy führte sie in eine Seitenstraße, und hier wurden die Häuser heruntergekommener, die Werbebilder eindeutiger. Dann erreichte sie das Florenz. Der Eingang sah eigentlich nach einer ganz normalen Kneipe aus, aber auf Plakaten links und rechts der Tür räkelten sich nackte Frauen, wobei Sternchen auf die drei fraglichen Stellen geklebt waren, und in den oberen Stockwerken leuchteten rote Neonherzen in den Fenstern.

Was tat Ben hier bloß? Noch vor einem Jahr hatte er Mädchen nervig gefunden, und vor ein paar Monaten war er alleine bei der Erwähnung des Namens einer Klassenkameradin feuerrot angelaufen. Und jetzt sowas?

Sie schloss ihr Fahrrad an einer Straßenlaterne an und wandte sich dann wieder dem Florenz zu. Direkt vor der Tür lud ein Mann ein metallenes Bierfass ab und rollte es ins Florenz hinein. Vielleicht kannte er Ben, konnte ihr sagen, was der hier so trieb. Als er wieder herauskam, um das zweite Fass abzuladen, überquerte sie die Straße.

„Entschuldigung?“

 Der Mann drehte sich um, sah sie verwundert an.

„Ich suche meinen Bruder. Ich habe gehört, er wäre manchmal hier.“ Auf dem Handy wischte sie zu einem Bild von Ben. „Kennen Sie ihn vielleicht? Haben Sie ihn hier schonmal gesehen?“

Er warf nur einen kurzen Blick auf das Handy, schien viel interessierter an ihr zu sein. Sein Blick saugte sich an ihren Brüsten fest, und sie zog die Jacke darüber zusammen.

„Hm“, sagte er, „oui, ich glaube schon.“ Er hatte einen französischen Akzent, der aus seinem Mund mit den fauligen Zähnen so gar nicht sexy klang. „Komm mit.“

Sie zögerte, aber nur kurz. Himmel, das war eben eine Kneipe, und im Moment war sie noch nicht einmal geöffnet. Ihr würde hier schon nichts passieren.

Der Laden war nicht gerade gemütlich zu nennen, aber für Männer, die eigentlich aus anderen Gründen herkamen, mochte er reichen. Ein paar Plakate an den Wänden bemühten sich, das Thema Florenz aufzunehmen und wirkten, wie aus einem Touristenbüro geklaut. Florenz – Perle am Arno, Wiege der Renaissance, Heimat Michelangelos, Stadt der Medici. An der linken Seite zog sich ein Tresen die gesamte Länge der Wand entlang. Der Mann hockte sich dahinter und schloss offenbar gerade das Fass an, das er zuerst hereingebracht hatte. Dann richtete er sich auf, das Gesicht gerötet vor Anstrengung, und schloss die Schranktür.

„So“, sagte er, „du willst also zu Rico.“

„Nein, ich kenne gar keinen Rico. Ich will zu meinem Bruder, Ben.“

„Ben, Rico“, er winkte ab und sagte etwas auf Französisch, das sie nicht verstand. Hinter ihr klappte die Tür, und als Jenn sich umwandte, kam Ben herein, gefolgt von ein paar Männern.

„Du wirst dich darum kümmern, gleich morgen“, sagte Ben, dann sah er sie und blieb stehen. Die anderen Männer verteilten sich im Raum. Ihre abschätzigen Blicke waren mehr als nur unangenehm. Jenn schloss ihre Jacke, was nicht viel half.

„Hey, Baptiste“, sagte einer von ihnen. „Wo hast du die denn her? Bisschen wenig oben rum“, er gestikulierte vage in ihre Richtung, „aber die Beine machen was her.“

„Klappe“, sagte Ben. „Das ist seine Schwester.“

„Baptiste hat ne Schwester?“

„Testa di Rapa! Seine Schwester!” Er zeigte mit dem Daumen auf sich selbst.

„Woher weiß sie, dass du hier bist?“

„Was weiß ich. So langsam habe ich ihn im Griff, aber Nachts entwischt er mir noch gelegentlich.“

„Du musst ja auch mal schlafen, Boss.“

„Ach, Slug, nimm den Kopf aus meinem Arsch.“ Ben wandte sich einer Tür zu, die dem Tresen gegenüberlag, und machte eine auffordernde Handbewegung. „Bring sie her, Baptiste.“

Jenn trat einen Schritt vor und wollte etwas sagen, doch in dem Moment packte jemand sie schmerzhaft fest am Oberarm.

Im ersten Moment erstarrte sie, dann wollte sie sich wehren, doch Baptiste packte nun auch ihren anderen Arm und zog beide nach hinten, wodurch die geschlossene Jacke über ihren Brüsten spannte. Gleichzeitig beugte er sich über ihre Schulter und schnüffelte an ihrem Hals. „Ganz ruhig meine Stute.“ Sein nach Zwiebeln stinkender Atem brandete klebrig gegen ihre Haut.

 „Lass mich los!“ Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, doch er packte nur noch schmerzhafter zu.

„Ja, wehr dich, Schlampe. Ich werd schon ganz steif.“ Er presste seine Hüfte gegen ihren Hintern, um ihr zu zeigen, dass er nicht log. Ein Knoten aus Übelkeit bildete sich ganz tief in Jenns Magen. Dann schob er sie in Richtung des Nebenraumes.

 Der Raum war weitaus wohnlicher als die Kneipe. Ein Ledersofa stand an der Wand, ihm gegenüber ein Schreibtisch, an dem Ben lehnte.

„Ich muss da weg“, sagte er gerade zu einem der Männer. „Die beiden gehen mir sowas von auf den Sack.“

„Die Möbel kommen erst morgen, Boss.“

„Scheißegal, dann gehe ich für die Nacht in ein Hotel. Hol meine Sachen.“ Er warf dem Mann seinen Schlüsselbund zu. „Ich hab nicht vor, noch einen Fuß in diesen verlausten Dachboden zu setzen.“

„Geht klar, Boss.“

„Und jetzt zu dir.“ Ben sah Jenn direkt an. In ihrem Kopf drehte sich alles. Warum redete Ben wie in einem Gangsterfilm aus den Vierzigern? Warum nannten die Typen hier ihn „Boss“? Erwachsene Männer, die sich von einem Fünfzehnjährigen herumkommandieren ließen? Das war doch alles völlig absurd!

„Ben“, sagte sie mit Tränen in der Stimme. „Was machst du?“

 Er stieß sich vom Schreibtisch ab, die Bewegungen eckig vor Wut, kam auf sie zu, packte ihr Kinn.

„Hast du’s noch nicht kapiert? Ben ist tot.“ Seine Finger bohrten sich schmerzhaft in ihren Kiefer. „Ich bin Rico. Du wirst Ben vergessen – und mich wirst du auch vergessen.“

„Aber was soll ich Mom …“

„Ist mir scheißegal, was du deiner verdammten Mama erzählst. Sorge nur dafür, dass sie nicht zur Polizei geht, und nicht hier her kommt, sonst wird sie es bereuen. Ihr werdet es beide bereuen.“

„Warum tust du das?“ Jetzt flossen tatsächlich Tränen über ihre Wangen.

Der Druck seiner Finger verstärkte sich, als wolle er ihr die Zähne aus dem Kiefer schieben. „Hast du kapiert, was ich gesagt habe, Schlampe?“

Sie versuchte, in seinem Griff zu nicken, und er ließ sie los. Er ging zurück zum Schreibtisch, blieb dann aber auf halbem Weg stehen. Mit dem Rücken zu ihr sagte er: „Ich glaube nicht, dass du’s kapiert hast.“ Er drehte sich zu ihr um. „Weißt du, wie man ein braves Mädchen zur Nutte macht?“

 Zaghaft schüttelte sie den Kopf.

„Drogen sind das eine. Das andere sind Vergewaltigungen. Vier oder Fünf am Tag. Nach zwei bis drei Wochen weiß sie, dass sie nur Dreck ist. Dann macht sie alles, was man von ihr verlangt.“

 Jenn begann zu zittern.

„Keine Angst, ich brauch dich nicht als Nutte. Da holen wir lieber Mädchen aus dem Osten. Aber ich will nicht, dass du oder deine Mutter hier jemals wieder auftauchen. Also bekommst du jetzt eine Warnung.“ Er nickte Baptiste zu, der sie noch immer festhielt. „Du denkst doch schon die ganze Zeit daran, sie zu ficken. Zeig mal, was du drauf hast.“

Der Knoten aus Übelkeit rammte ihr vom Magen in die Kehle hinauf.

„Was, hier?“ fragte Baptiste. „Jetzt?“

„Klar. Oder kriegst du ihn nicht hoch?“

 Eine erwartungsvolle Stille senkte sich über den Raum, während alle Jenn und den Mann hinter ihr ansahen. Für einen Moment hoffte sie, dass sich das alles auflösen würde. Dass Ben anfangen würde zu lachen, und das alles als grausamen Scherz offenbaren würde.

Einer der Männer sagte: „Boss, du weißt doch, Baptiste kann nicht mal pinkeln, wenn jemand zuguckt.“

Tatsächlich lachte Ben jetzt – und mit ihm die anderen. Doch es war kein Lachen, das für Jenn befreiend gewesen wäre. Ben winkte grinsend zur Tür. „Geh schon. Und Baptiste, mach es hart, damit sie die Lektion auch lernt.“

„Immer, Boss. Du kennst mich.“ Damit zerrte er sie mit sich, und ihr kraftloser Widerstand führte nur dazu, dass sich seine Finger noch tiefer in das Fleisch ihrer Oberarme bohrten.



- Ende der Leseprobe -

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